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Begleit- und Folgeerscheinungen

Psychische Belastung

Als die US-amerikanischen Ärzte Allen und Hines 1940 erstmals eine Krankheit namens „Lipödem“[1] beschrieben, berichteten sie, dass die Frauen diese als sehr belastend empfänden, viele sich ihrer Beine schämten und manche Patientinnen sogar meinten, die dicken Beine hätten ihr Leben ruiniert. Damit wären wir mitten in der Problematik, unter der die meisten betroffenen Frauen extrem leiden.

Das Schönheitsideal unserer Zeit ist die schlanke Figur. Frauen – insbesondere die jüngeren – die davon deutlich abweichen, erleben Gefühle von Scham und Unsicherheit. Früher, als Frauen lange Röcke trugen, konnten dicke Beine leichter versteckt werden. Doch spätesten seit 1970, als die Abgeordnete Lenelotte von Bothmer in einem Hosenanzug im Bundestag gesprochen hatte (was damals als Skandal empfunden wurde!), setzten sich Hosen und enge Jeans als Bekleidung der Damen allgemein durch. Verlierer dieser Entwicklung waren Frauen, deren Beine nicht dem angesagten Stil entsprachen. Sie finden ja nicht einmal Jeans oder modische Hosen, die ihnen passen würden!

Viele von ihnen versuchen, durch Hungern und intensiven Sport abzunehmen. Und das funktioniert auch… doch nicht am Lipödem! Schlimmer noch: Angesichts des abgemagerten Oberkörpers wirken Beine und Po dann noch dicker als zuvor. Unterschiede der Konfektionsgröße von Ober- und Unterkörper von 3 und 4 Nummern sind hier keine Seltenheit!

Enttäuschung, Verzweiflung und Schuldgefühle (wegen des vermeintlichen Versagens) stellen sich ein. Hinzu kommen Schwierigkeiten bei der Partnersuche, die Schmähungen von Mitmenschen und manchen Ärzten sowie die verbreitete Praxis von Krankenkassen bzw. Rentenversicherung, den Patientinnen medizinisch notwendige Therapie-Maßnahmen (Fettabsaugung, stationäre Reha etc.) zu verweigern.

Manche Lipödem-Patientinnen reagieren darauf, indem sie sich regelrecht kasteien, was die seelische Belastung meist noch vergrößert. Andere sind dagegen so frustriert, dass sie – weil sowieso alles aussichtslos ist – Trost im Essgenuss suchen. Mit den entsprechenden Folgen!


Übergewicht, Adipositas

Lipödem und Übergewicht sind zwei völlig verschiedene Dinge. Allerdings treten sie oft zusammen auf. Grund dafür ist, dass viele Lipödem-Patientinnen versuchen, mit Diäten das Fett an Po und Beinen abzubauen. Leider passiert dabei aber das Gegenteil: Sie hungern sich mit der Zeit ein Übergewicht an! Denn der Körper reagiert auf eine starke Reduzierung der Nahrungszufuhr durch Umstellung auf eine effektivere Nahrungsverwertung (Hunger-Stoffwechsel). Bei der Rückkehr zur „normalen“ Essgewohnheit genügen dann wesentlich weniger Kalorien als zuvor um zuzunehmen.

Eine Abnahme des Körpergewichts um 10 bis 15 Prozent des Normalgewichtes stört das sensitive Spiel der Hormone. Dies kann ggf. das Entstehen bzw. die Zunahme eines Lipödems begünstigen. Die kontinuierliche Abnahme des Körperfettanteils führt zu verringerten Konzentrationen von Leptin, eines appetit-regulierenden Hormons, das normalerweise ausgeschüttet wird, um den Hunger zu unterdrücken. Ist das Leptin vermindert, besteht ein ausgeprägter Energiemangel, der mit zusätzlichem exzessivem Sport weiter zunimmt.

Auf Dauer bewirkt jede strenge Diät eine Gewichtszunahme. Zudem wird oft wegen des großen Körpergewichts und der Gelenkschmerzen weniger Sport getrieben. Dies führt zu einem Teufelskreis aus Gewichtszunahme, Verschlimmerung der Gelenkschmerzen, Gewichtszunahme, Verschlimmerung…


Essstörungen

Eine Untersuchung an 100 Lipödem-Patientinnen in der Schwerpunktpraxis Lipödem Schwarzenbach am Wald (Dr. med. Josef Stutz) kam zu folgenden Ergebnissen: 74 Prozent leiden an chronischen Essstörungen, 12 Prozent haben periodisch unkontrollierbare Fressanfälle (Binge eating), 8 Prozent leiden unter Bulimie (Ess-Brechsuch), heftigen Heißhungerattacken, nach denen sie durch selbst herbeigefügtes Erbrechen, mit extremen Diäten und Abführmitteln versuchen, eine Gewichtszunahme zu verhindern, damit ihre Sucht nicht bemerkt wird.

Besonders bedenklich ist aber die Tatsache, dass 16 Prozent – also mehr als jede sechste der untersuchten Frauen! – an Anorexia nervosa (Magersucht) leiden, einer psychisch bedingten schweren Essstörung. Denn bis zu 15 Prozent der Erkrankten sterben daran, entweder durch Komplikationen wie Herzversagen, Infektionen oder aber durch Selbstmord. Die überleben, leiden zum Teil lebenslang an Knochenschwund (Osteoporose), Nierenversagen oder anderen Langzeitfolgen.


Körperliche Schmerzen

Wie gravierend die Schmerz-Problematik beim Lipödem ist, zeigt die zitierte Studie von Dr. Stutz. Dabei wurde die Intensität der körperlichen Schmerzen nach einer normierten Skala quantifiziert. Die Skala reicht von 0 (keine Schmerzen) bis 10 (unerträgliche Schmerzen). Bei 80 Prozent der untersuchten Lipödem-Patientinnen lag die Schmerzstärke bei 5 und mehr, bei 59 Prozent zwischen 7 und 10. Bei 11 Prozent – also jeder neunten! – waren die Schmerzen unerträglich (Wert 10).

Körperliche Schmerzen beim Lipödem
Statistik: Dr. Josef Stutz, www.stutz-dr.com


Seelische Schmerzen Bei den seelischen Schmerzen sind die Verhältnisse sogar noch dramatischer: 90 Prozent hatten Schmerzen der Stärke 5 und mehr, 77 Prozent zwischen 7 und 10, und bei 40 Prozent lag die Intensität der Schmerzen bei 9 und 10!

Seelische Schmerzen beim Lipödem
Statistik: Dr. Josef Stutz, www.stutz-dr.com


Orthopädische und andere Erkrankungen


Beinfehlstellung bei Ausprägung des Lipödems
Bildquelle: Dr. Josef Stutz, www.stutz-dr.com
Bei zunehmender Ausprägung des Lipödems bilden sich Wülste an den Innenseiten der Oberschenkel. Dies führt (um das Aufscheuern der Haut zu vermeiden) zu einer Fehlstellung der Bein-Achsen (Abspreizen der Beine) mit Störung des Gangbildes und dadurch zu Fehlbelastungen der Gelenke. Aus diesem Grund ist die Gonarthrose (schmerzhafte Abnützung des Kniegelenks) eine häufige und schwerwiegende Komplikation des Lipödems, die wiederholt zu Arbeitsunfähigkeit, ja sogar zur Invalidität führen kann.

Häufig muss dann ein künstliches Knie- oder Hüftgelenk implantiert werden, wobei aber die Ursache der Beinachsen-Fehlstellung damit in keiner Weise beseitigt wird.

Auch leiden viele Betroffenen unter starken Rückenschmerzen, weil die Wirbelsäule wegen des ausgeprägten Gesäßes beim Liegen eine unnatürliche Krümmung einnimmt.

Durch Scheuern der Innenseite der Beine wird die Haut dort wund. Diese Schmerzen kommen zu den „normalen“ Schmerzen des Lipödems hinzu. Viele Patientinnen nehmen deshalb über Jahre hinweg Schmerzmittel, was oft zu Abhängigkeit, Nerven- und Organschäden führt.

Beeinträchtigung von Lebensqualität und Lebensfähigkeit
– Suizid-Gefährdung


Suizid-Gefährdung beim Lipödem
Statistik: Dr. Josef Stutz, www.stutz-dr.com
Die zahlreichen mit dem Lipödem verbundenen Beschwerden beeinflussen die Fähigkeit, die täglichen Funktionen (allgemeine Lebensführung, Beruf, Haushalt, Hobbies, Sport etc.) auszuüben und am sozialen Leben teilzunehmen. Hinzu kommen Probleme bei der Partnersuche, Anfeindungen von außen (Mobbing etc.), Ängste, wie sich die Probleme in der Zukunft verschlimmern werden, Hilflosigkeit durch den Verlust des Vertrauens in Ärzte und manches mehr.

Das kann eine vernichtende Abwärtsspirale in Gang setzen. So ist es nicht verwunderlich, dass in einer Befragung jede achte Lipödem-Patientin angab, mindestens einen Selbstmordversuch hinter sich haben. Doch wie viele dabei „erfolgreich“ waren, ist nicht bekannt. Darum müssen Ärzte bei der Behandlung von Lipödem-Patientinnen grundsätzlich auch die Option einer Psychotherapie erwägen.

[1] Allen und Hines verstanden unter „Lipödem“ eine Wassereinlagerung in krankhaft vermehrtem Fettgewebe der Beine infolge Orthostase (aufrechte Körperhaltung). Die heutige Bezeichnung „Lipödem“ geht weit über die Definition von Allen und Hines hinaus. Dennoch wurde der von ihnen geprägte Ausdruck unverändert beibehalten.
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